„Sie sind zu spät. Die Ministerne sind schon weg bis auf die beiden“, sagt der Ladenbesitzer und deutet auf zwei blau-weiße Herrenhuter Sterne.
Tränen schießen mir in die Augen.
„Aber blau gefällt ihm nicht, und ich brauche ganz dringend einen“, presse ich hervor.
Dann stehe ich schluchzend da.
Ich stammle eine Entschuldigung mit „Schlaganfall“, „Krankenhaus“ und „besondere Bedeutung für uns“ darin und will schon gehen, da verschwindet der Mann nach hinten und kehrt mit einem Mini-Mini-LED-Sternchen zurück.
„Wollen Sie den?“, fragt er und schenkt mir den Adapter noch dazu. „Ist doch Weihnachten.“
Vier Tage später leuchtet das Sternchen vom Galgen über Bs Klinikbett. Symbol für das, was durch den Schlaganfall ebenfalls bedroht ist: unsere Beziehung.
Wir schaffen das
Ich weiß nicht, was gewesen wäre, hätte B mich nicht zurückgeküsst, als ich ihn in der ersten Nacht nach der Notoperation kurz sehen darf. In dem Moment weiß ich: Er kennt mich noch. Und dieses Wissen trägt mich durch die nächsten Monate. Lässt mich an das glauben, was ich ihm in jener Nacht ins Ohr flüstere und mir als merkelmäßiges Mantra immer wieder vorsage: Wir schaffen das.
Denn auch nur ansehen, ob B sich freut, wenn er mich sieht, kann ich ihm nicht mehr. Wenn ich das Krankenzimmer betrete, dauert es eine Ewigkeit, bis er mich überhaupt wahrnimmt, sich dann zu mir umdreht und Guten Tag sagt. Mit tonloser Stimme, ohne jede Emotion, das Gesicht starr und ausdruckslos.
Es ist nicht nur die Aufmerksamkeitsstörung. Es ist nicht nur der ausgeprägte Neglect, bei dem Informationen mit der betroffenen Seite zwar aufgenommen, aber nicht verarbeitet werden. Es ist nicht nur die Gesichtslähmung oder die Lähmung der Stimmlippen – B kann Gefühle einfach nicht mehr körperlich ausdrücken.
Der Mann, der mich vorher auf tausend Arten angeguckt, das Gesicht lustig verzogen, mit verstellter Stimme gesprochen hat, wirkt plötzlich wie ein Roboter.
Und natürlich frage ich mich: Wenn er keine Gefühle zeigt, hat er überhaupt noch welche?
Viele schaffen es nicht
Mit dem Rollator laufen wir vor der Cafeteria dem Neuropsychologen über den Weg.
Ich deute meine Besorgnis wegen der anhaltenden Starre an.
Im Gegensatz zu Parkinson gäbe es bei Schlaganfall Hoffnung, sagt der Neuropsychologe.
Er habe mit B darüber gesprochen, vorhandene Gefühle verbal auszudrücken, sagt der Neuropsychologe.
Auch vorher gut funktionierende Beziehungen würden oft daran zerbrechen, sagt der Neuropsychologe.
Teilweise bin ich sogar überrascht über die Zuneigungsbekundungen von Seiten Bs. Er versichert sich meiner – auf seine Weise. Wiederholt immer wieder, dass jetzt ich ihm helfe, damit später dann er mir wieder helfen könne. Sagt beim Abschied, wie schön mein Besuch gewesen sei. Er bittet mich sogar, ihm Bücher norwegischer Autoren mitzubringen, jetzt habe er Zeit, sie zu lesen. Bislang stand er meiner Liebe zu norwegischer Literatur eher skeptisch gegenüber.
Ich scrolle in meiner Not nächtens das Internet rauf und runter. Lese jeden Beitrag, in dem das Wort Schlaganfall überhaupt vorkommt. Lande auch in den einschlägigen Internetforen, hauptsächlich von Frauen frequentiert.
Dort wird das Thema ‚schwere Erkrankung des Partners während man selber noch relativ jung ist‘, diskutiert.
Meine Analyse der Beiträge fällt eindeutig aus. Kinder, Ehe und eine lange Beziehungsdauer erhöhen die Bereitschaft der Frauen, beim Partner zu bleiben. Bzw. bilden sie die Kriterien für die Nicht-Betroffenen, die den anderen freimütig Ratschläge erteilen. Bei unverheiratet, keine Kinder, kurze Beziehungsdauer geht die Tendenz eindeutig zur Priorisierung des eigenen Lebens, solange man selber noch kann.
Wie lange sind wir jetzt zusammen? Ich klappe den Laptop wieder zu.
Schaffen wir das?
Ein halbes Jahr nach dem Schlaganfall ist B noch der, der er vorher war, und gleichzeitig ist er es nicht.
Eigenschaften, die vorher schon problematisch für die Beziehung waren, haben sich verstärkt. Eine tiefgreifende Veränderung der Persönlichkeit jedoch, wie sie durch einen Schlaganfall auch auftreten kann, ist uns zum Glück erspart geblieben. Wenn ein vormals ruhiger und ausgeglichener Mensch plötzlich jähzornig und unleidlich wird, ändert das die Paardynamik mehr als eine körperliche Behinderung, mit der umzugehen man lernen muss und kann.
Aber ist es wirklich nur das? Eine Anpassung an eine veränderte Körperlichkeit, etwas Äußerliches?
Nein.
Wir verlieben uns in einen Menschen so, wie er ist. Was er ausstrahlt. Wie er buchstäblich in der Welt steht. Körperlich.
Ich erinnere mich (selbstverständlich) an den Moment, in dem ich mich in B verliebt habe. Wir hatten einander schon länger wahrgenommen und beschnuppert, als wir an jenem Abend auf dem Nachhauseweg von einer Lesung waren. Wir erzählten uns unsere sehr ähnlichen Kindheitserlebnisse. Und es war nicht nur der Umstand, dass ich mich endlich verstanden fühlte, der dazu führte, dass es bei mir Klick machte, es war gleichzeitig die Tatsache, dass ich Bs körperliche Präsenz neben mir sehr angenehm fand. Ich fühlte mich beschützt.
Wenn ich heute mit B unterwegs bin, habe ich das Gefühl, ich müsse ein rohes Ei heil durch die Menge bringen. Plötzlich bin ich die, die ihn beschützt.
Warum suchen wir uns den Partner aus, den wir uns aussuchen? Wieviel dabei ist Kompensation dessen, was man für die eigene Unzulänglichkeit hält? Warum hab ich, die seit früher Jugend chronisch Kranke, mir einen Mann ausgesucht, der groß und kräftig ist, der nicht zu übersehen ist?
Der nicht zu übersehen war.
Der einen Raum eingenommen und alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Der jedem Anwesenden in drei Minuten klargemacht hat, mit wem er es zu tun hat.
B wird nicht mehr zum Bus vorsprinten und die Tür so lange blockieren, bis ich herangekommen bin, und er wird nicht mehr für mich Klavier spielen und „Summertime“ singen. Am schlimmsten sind diese Verluste für ihn selbst. Aber sie verändern auch unsere Beziehung, unsere Rollen darin und all die tausend kleinen Einzelheiten, aus denen sie bestand.
Wir müssen uns erst wieder zurechtruckeln. Das dauert.
Ob wir es schaffen, zeigt die Zeit.