Ich wandle wieder – und wie! Nach drei Monaten, die ich für meinen Kurs fast ausschließlich vor dem Computer verbracht habe, mache ich dem alten deutschen Monatsnamen des April alle Ehre. Doch ehe ich als Höhepunkt bei Wind und Wetter die Waterkant entlangstapfe, bin ich neugierig auf das Wiedersehen mit einem alten Bekannten.
Erinnerungen auffrischen, die Erste: Edvard Hoem
28 Jahre nachdem ich neben ihm am Frühstückstisch gesessen habe, sehe ich ihn wieder: den norwegischen Schriftsteller Edvard Hoem. Er ist auf Einladung der Deutsch-Norwegischen Freundschaftsgesellschaft auf Lesereise in Deutschland mit seinem Roman „Der Geigenbauer“.
Damals kam er herein mit seinen wippenden Locken und füllte den Raum. Nicht auf unangenehme Art, aber ich merkte, dieser Mann ist Aufmerksamkeit gewohnt. Er ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen, machte ein paar geistreiche Bemerkungen zu den Redakteuren des Forlaget Oktober hin, musterte mich von der Seite und fragte, ob ich nicht in der Schule sein müsste. Ich war 29. Während meines Praktikums im Verlag Aschehoug hatte man mich ein paar Tage zu Oktober geschickt, dem kleinen Tochterverlag mit hohem literarischen Anspruch, wo einmal die Woche ein gemeinsames Frühstück von Redakteuren und Autoren stattfand.
Der Mann, der jetzt am Stock hereinschlurft, ist gebrechlich. Er guckt freundlich in die Welt und strahlt so etwas wie Demut aus. Dass er inzwischen einer der meistdekorierten Schriftsteller Norwegens ist, ist ihm jedenfalls nicht zu Kopf gestiegen.
In die Wiege gelegt war Hoem dieses Leben nicht. Es ist berührend zu hören, auf deutsch, dass es auf dem Hof, von dem er stammt, nur drei Bücher gegeben hat: Die Bibel, den Norwegischen Almanach und das Schullesebuch mit Ausschnitten von Ibsen und Co. Und er liest mehrere Passagen aus dem „Geigenbauer“, einem historischen Roman über einen seiner Vorfahren.
Während das Frühstück in Oslo im Spätsommer 1996 locker und familiär ablief, ist diese Veranstaltung hier einfach nur gnadenlos steif.
Und irgendwie auch unwürdig.
Der Vertreter der Deutsch-Norwegischen Freundschaftsgesellschaft ringt sich einleitende Worte ab und vergisst den Vornamen seines Gastes, probiert sich durch ein paar mit „E“ hindurch, ohne den richtigen zu finden.
Der Medienwissenschaftler Peter von Rügen, der als Historiker eingeführt wird, leitet das Gespräch mit Hoem an Tischen, die mich an ein Klassenzimmer der Fünfzigerjahre erinnern. Dabei siezt er ihn plötzlich, obwohl sich die beiden beim Hereinkommen in den Saal noch duzten.
Während von Rügen dann in staubtrockener Professorenmanier den historischen Hintergrund des Romans, die Schlacht vor Kopenhagen 1801, liefert, und darüberhinaus ohne jeden literarischen Sachverstand referiert, was im Buch zwischen den Passagen, die der Autor liest, passiert, wird Hoem eine undankbare Aufgabe zuteil: Er muss sich vom Stuhl hochhieven, seinen Stock greifen, ein paar Meter zum Rednerpult tapern und dort im Stehen, optisch eingequetscht zwischen zwei riesigen Flaggen, in gebrochenem Deutsch ein Stück aus dem Roman vortragen und sich dann zum Stuhl zurücktasten, bis das Spiel von Neuem beginnt.
Am Ende der Veranstaltung, bei der weder der Klang der Sprache Hoems noch der der deutschen Übersetzung von Antje Subey-Cramer zum Tragen kam, dankt der Vertreter der Freundschaftsgesellschaft dem Autor überschwenglich für einen mitreißenden Abend und überreicht ihm eine Flasche Wein.
Nun ja.
Erinnerungen auffrischen, die Zweite: Büsum
Meine erste Erinnerung an Büsum ist mit einer Telefonzelle hinterm Deich verbunden.
Nach stundenlanger Fahrt waren wir in unserer Frühstückspension angekommen und machten uns auf, meine Großmutter anzurufen. Ich höre heute noch das Klackern der Münzen, das Trommeln des Regens und wie der Wind um die Zelle pfeift.
Seit diesen Osterferien 1976 ist Büsum mein Kindheitsparadies und Kraftort, und erschöpft wie ich von den letzten Monaten bin, fahre ich ein paar Tage lang hin, um meine Batterien dort wieder aufzuladen.
Ich nehme die Bahn und brauche fast genauso lang wie damals, als es noch keine Autobahn von Berlin nach Hamburg gab und man auf der B5 dahintuckerte, nachdem man unberechenbar lange Zeit an den Grenzübergangsstellen in der Schlange gestanden und gehofft hatte, nicht von den Vopos gefilzt zu werden. Für die Strecke, die heute mit dem Auto in gut vier Stunden zu bewältigen ist, braucht die Bahn trotz ICEs und 240 kmh bis Hamburg sechseinhalb Stunden inklusive dreimal Umsteigen und Verpassen des Anschlusses in Itzehoe.
Ich wohne beim Enkel der Pensionswirtin von anno dunnemal, denn ich bin eine treue Seele. Wissen, was mich erwartet, hat für mich Erholungswert.
Der Winter ist dieser Tage kurz zurück, was in meinen Augen kein Nachteil ist, denn so komme ich fast zu meinem echten Nordseefeeling. Fast, denn der Wind ist nicht stark genug, mich vom Deich zu blasen. Aber sein Sausen um meine Ohren und das Geräusch der ans Ufer schlagenden Wellen vertreiben alle Gedanken an Onlinekurse und weiteres Vorgehen aus meinem Kopf. So hatte ich mir das vorgestellt. Auf die Haut nass werde ich nur zwei Mal, am Ende meines Kurztrips scheint schon wieder die Sonne.
Ich bin vollkommen glücklich damit, vormittags das Ufer entlang nach rechts, nachmittags nach links zu wandern. Bei den Büsumaufenthalten meiner Kindheit guckten nur die Einrichtungen des Kurbetriebs über den Deich; das Badehaus, der Kursaal, die Liegehalle. Später dann das neue Kurmittelhaus, in dem ich wochenlang in Schlick badete, um mich nach dem Abitur zu erholen. Heute sind alle Kureinrichtungen abgeschafft und die Toplagen mit Hotels bebaut. Aber die Wasserlinie und der Blick übers Meer sind ebenso unverändert wie das Gefühl der salzigen Meerluft auf der Haut.
Die Rückfahrt erweist sich als gefährlich. Ich sitze im EC177 von Hamburg nach Prag, als eine sehr dicke Frau mit einem sehr großen Koffer in mein Abteil zusteigt. Der Zug hat noch einen Gang mit Schiebetüren zu 6er-Abteilen. Das Gepäck muss man auf eine sehr hoch gelegene Ablage unter der Decke wuchten, oder, wie in meinem Fall, die ich das nicht schaffe, wenn nicht alle Plätze besetzt sind, vor sich stehen lassen. Dieser Umstand rettet mich quasi. Denn als die sehr dicke Frau versucht, ihren sehr großen Koffer auf die sehr hohe Ablage zu hieven, verliert sie das Gleichgewicht. Sie fällt auf mich drauf und der Koffer, der erst knapp zur Hälfte auf der Ablage lag, fällt auf sie, sprich uns, herunter. Mein kleiner Koffer vor den Knien fängt ihr Gewicht zum Teil ab, und so verstauche ich mir „nur“ das Handgelenk.
Was sonst noch los war
- Ich gehe mal wieder ins Kino: Die Herrlichkeit des Lebens. Aber man sollte nicht die Verfilmung eines Buches (von Michael Kumpfmüller) anschauen, das man sehr mag… Ich fand den Film furchtbar.
- Ich schließe die Facebook-Gruppe, die meinen Kurs begleitet hat und werde wehmütig
- Ich bin gerührt von meinen Testimonials; einem Satz wie diesem zum Beispiel: „Die Akzeptanz der Schmerzen, ich habe sie niedergeschrieben, festgehalten, ein Teil von mir werden lassen. Ich befreie mich dadurch. Danke Susanne.“
- Endlich wieder Zeit zum Lesen! In Büsum erfreue ich mich am Kinderbuch Kükensommer von Anna Woltz, lese das kluge Buch Das Leben ist ein vorübergehender Zustand der wunderbaren Gabriele von Arnim und fange Alte Sorten von Ewald Arenz an
Das habe ich im April gebloggt
- 12 von 12: April 2024
- (ich brauchte die Pause…)
Darauf freue ich mich im Mai
- meinen Balkon schön zu machen
- wieder Zeit für Stadterkundungen zu haben
- wieder mehr zu bloggen
- auf die Zusammenarbeit mit meinen Freundinnen Margrethe und Petra in Sachen Blog und Strategie
- Pfingsten und einen Besuch auf dem Land