Was ist ressourcenorientierte Biografiearbeit?

Biografiearbeit betreibt grundsätzlich jeder, der sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte beschäftigt. Das Wort ‚Biografie‘ setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: bios (leben) und gráphein (schreiben, zeichnen, darstellen). Biografie ist also Lebensbeschreibung. Nichts, das einfach da ist oder feststeht. Eine Biografie listet nicht passiv Daten und Fakten auf, sondern eine Lebensbeschreibung ist immer das Ergebnis eines aktiven, bewusst gestalterischen Prozesses.

Biografiearbeit im Allgemeinen und die auf Ressourcen ausgerichtete Biografiearbeit im Besonderen ist eine Methode in der sozialen Arbeit, über die die Psychologin Christina Hölzle und die Sozialpädagogin Irma Jansen ein umfangreiches Buch herausgegeben haben. Als Methode verwendet, meint Biografiearbeit die Anleitung zu und Begleitung von biografischer Selbstreflexion. Sie eignet sich besonders, wenn es um die Bewältigung von Trauer und Verlust geht. Also beim Verlust wichtiger Bezugspersonen, beim Verlust von Gesundheit oder körperlicher Unversehrtheit und dem Verlust von Freiheit oder Heimat.

Identität und Sinn nach einem Verlust wiederfinden

Die beiden Fragen, die ein Trauernder am häufigsten stellt, sind: „Wer bin ich noch ohne dich/ohne das?“ Und: „Welchen Sinn hat mein Leben noch ohne dich/ohne das?“ Eine Verlusterfahrung untergräbt das Identitätsgefühl und lässt am Sinn des Lebens, besonders am Sinn des eigenen Weiterlebens, zweifeln. In der Biografiearbeit wird der Mensch ermutigt, sich damit auseinanderzusetzen, wie er geworden ist. Was hatte Kontinuität, wo gab es Brüche? Das Gefühl für das eigene Selbst kann wieder wachsen, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geordnet, aufeinander bezogen und sinnhaft gedeutet werden.

Ereignisse wie der Tod eines geliebten Menschen, eine Krankheitsdiagnose, Flucht, Vertreibung und Migration katapultieren den Menschen immer in eine Umbruchsituation, die er in jedem Fall bewältigen muss. Ob er das Ereignis jedoch als Krise erlebt, hängt von zwei Dingen ab:
– Welche Bedeutung schreibt der Betroffene dem Ereignis zu?
– Und wie beurteilt er seine Kompetenzen und Ressourcen, die ihm zur Bewältigung des Ereignisses zur Verfügung stehen?

Ressourcen sind alle Fähigkeiten, Fertigkeiten und unterstützenden Beziehungen, auf die ein Mensch zugreifen kann, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, mit belastenden Alltagssituationen umzugehen und sich in der Zukunft selbst zu realisieren.

Ressourcenorientierte Biografiearbeit hat das Ziel, diese Ressourcen zu aktivieren. Das gelingt entweder durch einen Rückblick auf die Vergangenheit oder einen Ausblick auf die Zukunft. Welche Probleme hat beispielsweise ein Trauernder in der Vergangenheit erfolgreich gemeistert? Die Erinnerung daran stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Außerdem macht sie Potenziale bewusst, die auch auf aktuelle oder zukünftige Herausforderungen übertragen werden können.
Und welche Lebensziele oder -wünsche hat der Betroffene für seine Zukunft? Es motiviert, wenn diese Ziele konkret formuliert und machbare Schritte innerhalb einer bestimmten Zeit festgelegt werden. In der Trauerarbeit sind solche Ziele z. B. die Bewältigung des veränderten Alltags und die Übernahme von Rollen, die der Verstorbene ausgefüllt hat. Oder es geht um größere Lebensziele, Träume etwa, die man vielleicht in der Jugend hatte, aber für die Partnerschaft aufgegeben hat.

Kohärenzgefühl und Widerstandsressourcen

Die sinnhafte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie in der Biografiearbeit geschieht, fördert auch das Gefühl der Kohärenz. Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl ist, desto leichter gelingt die Bewältigung einer Krise. Kohärenz ist ein Kernbegriff der von Aaron Antonovsky entwickelten Salutogenese, mit der sich auch die Theologin Heike Schneidereit-Mauth in ihrem Buch „Ressourcenorientierte Seelsorge“ beschäftigt hat.

In der modernen Medizin herrscht das Modell der Pathogenese vor. Das fragt danach, was den Menschen krank macht und wie das Kranke quasi repariert werden kann. Diesem Modell stellte der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Antonovsky das Modell der Salutogenese gegenüber. Diese fragt danach, was den Menschen trotz potenziell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund hält, bzw. ihn selbst unter extremen Belastungen nicht krank werden lässt. Antonovsky forderte, nicht nur nach Krankheitsursachen zu suchen, sondern auch nach gesundheitsfördernden Faktoren, sogenannten „Widerstandsressourcen“.

Antonovsky definierte das Kohärenzgefühl als eine Art psychisches Immunsystem, das dem körperlichen Immunsystem entspricht. Es besteht aus drei Komponenten: comprehensibility (Verstehbarkeit), manageability (Handhabbarkeit) und meaningfullness (Sinnhaftigkeit). Das Kohärenzgefühl erklärt, warum einige Menschen unter vergleichbar schweren Bedingungen eher gesund sind als andere. Es ist nicht naturgegeben, lässt sich aber durch die Aktivierung von Ressourcen aufbauen und festigen. Wenn ein Mensch darauf vertraut, dass das, was um ihn herum geschieht, zu verstehen ist, zu bewältigen und sinngebunden, dann verunsichern ihn belastende Lebensereignisse weniger als jemanden, der alles als unverständlich, unbeeinflussbar und sinnlos erlebt.

Nach einem schweren Verlust ist ein Trauernder mit vielen Herausforderungen konfrontiert: Er muss das Geschehene verstehen, mit dem Schmerz umgehen, den veränderten Alltag bewältigen, ein neues Selbstgefühl entwickeln, und er darf das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit eigenen Tuns und Weiterlebens nicht verlieren. Das sind Herausforderungen auf genau den Gebieten, die den Kern des Kohärenzgefühls ausmachen: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit. Die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte kann Ressourcen sichtbar machen und aktivieren, die das Kohärenzgefühl auch im Trauerprozess stärken. Insofern ist ressourcenorientierte Biografiearbeit ein wichtiges Tool im Trauercoaching. Sie kann vielfältig gestaltet und an alle Traueraufgaben nach William Worden angepasst werden.

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