Der innere Kritiker ist in aller Munde. Kein Selbsthilfebuch, kein Kurs zu Persönlichkeitsentwicklung, in dem nicht von ihm die Rede ist. Der moderne Mensch scheint willig, viel Arbeit, Zeit und Geld zu investieren, um seinen Feind, den inneren Kritiker, zum Schweigen zu bringen. Als Autor:in hingegen ist es besser, wenn du dir den vermeintlichen Feind zum Freund machst.
Wer ist der innere Kritiker?
Der innere Kritiker ist der Person gewordene Ausdruck aller verinnerlichten negativen Kommentare, die wir meist früh im Leben zu hören bekommen haben. Vorrangig von unseren Eltern, Lehrern und Klassenkameraden, aber auch anderen Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn. Zu einem sensiblen Zeitpunkt ausgesprochen oder oft genug wiederholt, sind diese negativen Äußerungen zu Glaubenssätzen geworden: Du schaffst das nicht! Das ist nicht gut genug! Die anderen können das besser!
Der innere Kritiker scheint hinter unserem Ohr zu wohnen, in das er seine niederschmetternden Kommentare trompetet, wenn er uns über die Schulter gelinst und gelesen hat, was wir da geschrieben haben: Das ist ja das reinste Chaos, und das nennst du einen Roman?!
In Wirklichkeit wohnt er in unserer rechten Gehirnhälfte. Im Gegensatz zu unserem inneren kreativen Kind. Das wohnt in der linken. Und während die linke Gehirnhälfte mit unserem Unbewussten, unserer Erinnerung und unserer Vorstellungskraft, sprich Kreativität, verbunden ist, ist die rechte Gehirnhälfte für Logik, Lösung und Struktur zuständig. Und diese Eigenschaften brauchen wir dringend, wenn wir einen wie auch immer gearteten Text schreiben wollen, der gelesen werden will!
Der innere Kritiker und das innere kreative Kind
Der Teil in uns, der vor Ideen nur so sprudelt, der sich verrückte Sachen ausdenkt und über sich selbst schlapplacht, ist das innere kreative Kind. Es ist in der Lage, eine ungeheure Menge Rohtext zu produzieren. Aber ein Text, in dem sich nur ein brillanter Einfall an den nächsten reiht, zieht den Leser auf Dauer nicht mit. Ein roter Faden muss her, ein Sinn des Ganzen, ein Spannungsbogen, eine Form, kurz gesagt: Schreibhandwerk. Und das ist die Stunde des inneren Kritikers.
Würde der innere Kritiker den Text allein schreiben, geriete dieser so aufregend wie die Gebrauchsanweisung für einen Rasenmäher. (Allerdings stünden die Kommata an der richtigen Stelle, was bei Gebrauchsanweisungen selten der Fall ist.) Es liegt also auf der Hand, dass Kind und Kritiker zusammenarbeiten müssen. Der Schreibprozess ist ein Gemeinschaftsprojekt, was aber nicht heißt, dass beide gleichzeitig zu Werke gehen sollten. Das kann nämlich leicht in einer Pattsituation, sprich Schreibblockade enden. In den verschiedenen Phasen des Schreibprozesses hat der innere Kritiker jeweils seine ganz bestimmte Aufgabe. Je bewusster du dir bist, an welcher Stelle die Fähigkeiten des Kritikers gefragt sind, desto selbstverständlicher kannst du dir diese Fähigkeiten zunutze machen.
Der innere Kritiker und der Schreibprozess
Ideenfindung
Ideen lassen sich mit den verschiedensten Techniken finden. Wenn du intuitiv schreibst, wird du wahrscheinlich das Freewriting wählen, schreibst du analytisch, das Brainstorming, Mindmapping oder Clustering. Unter Umständen, wenn es am Anfang etwas stockt, kann der innere Kritiker helfen, das Rad der Fantasie in Schwung zu bringen. Er kann irgendeinen zufälligen Anfangspunkt aus seiner Werkzeugkiste zaubern, ein Foto zum Beispiel oder einen beliebigen Satz aus einem willkürlich aus dem Regal gezogenen Buch. Ansonsten aber ist die Phase der Ideenfindung der Spielplatz schlechthin für das innere kreative Kind. Ein Spielplatz, auf dem der innere Kritiker nichts verloren hat, solange das Kind sich dort austobt.
Erst wenn dem Kind nichts Neues mehr einfällt, darf der Kritiker wieder dazukommen. Aus der Menge an unzusammenhängenden Einfällen wählt er verschiedene Elemente aus und kombiniert sie, bis sie ein Ganzes ergeben. Charakterzüge, Szenen, Handlungsstränge usw. Am Ende treffen beide, das innere kreative Kind und der innere Kritiker die Entscheidung, mit welcher Idee sie weiterarbeiten wollen. Beide müssen zufrieden sein und genügend Motivation verspüren. Das Kind muss kreatives Potenzial in dieser Idee sehen, und für den Kritiker ist es wichtig, dass die Idee mit den Regeln des Storytellings vereinbar ist – oder denen für journalistisches oder wissenschaftliches Schreiben.
Erster Entwurf
In dieser Phase des Schreibprozesses kommt der innere Kritiker entweder am Anfang oder am Ende ins Spiel. Beim analytischen Autor am Anfang, beim intuitiven am Ende.
Wenn du analytisch veranlagt bist, wirst du deinen Text im Voraus planen. Biografien deiner Charaktere schreiben. Anfang, Mitte und Ende skizzieren. Die Wendepunkte festlegen. Eventuell eine Synopsis schreiben. Für diese Planung, die vor dem eigentlichen Schreiben stattfindet, ist der innere Kritiker mit seiner Logik und Struktur Gold wert.
Bist du intuitiv veranlagt, schreibst du einfach los und musst anschließend in deinen Rohtext Struktur hineinbringen, überlegen, welche Teile eventuell noch fehlen, damit ein zusammenhängender und sich entwickelnder Text entsteht. Hierfür brauchst du den inneren Kritiker.
In der Hauptsache aber geht es in dieser Schreibphase darum, den Text einmal von Anfang bis Ende durchzuschreiben. Und dieser erste Entwurf ist in allererster Linie die Domäne des inneren kreativen Kindes. Alle Details, die eine Figur zum Leben erwecken, alle Details, die einen Handlungsverlauf spannend und einzigartig machen, Wortwahl, Sprachwitz, der den Leser begeistert – all das lässt sich das kreative Kind während des Schreibens einfallen. Und aus diesem Prozess hat sich der innere Kritiker herauszuhalten.
Möglicherweise kann der Kritiker mit seinem eisernen Willen noch der Prokrastination ein Ende bereiten und das Kind an den Schreibtisch setzen. Ihm einen kleinen Schubs geben, indem er die ersten Sätze formuliert, hölzern und leblos. Aber sobald sich das innere kreative Kind denkt, Das kann ich aber besser!, die Tastatur übernimmt und in den Flow kommt, kann der Kritiker seinen Jahresurlaub antreten.
Überarbeitung
Wenn dein erster Entwurf fertig ist und es an die Überarbeitung geht, ist dein kreatives Kind einigermaßen erschöpft. Und das ist auch gut so, denn Überarbeitung ist hauptsächlich Sache deines inneren Kritikers. Sind die Charaktere glaubwürdig gezeichnet? Entwickelt sich die Handlung stringent? Hören sich die Dialoge lebendig und natürlich an? Auf diese und mehr Fragen hin klopft der innere Kritiker den Text ab, und all sein theoretisches Wissen über die Techniken des Schreibhandwerks zahlt sich hier aus. Der Kritiker macht sich auch mit dem Rotstift über Rechtschreibung und Grammatik her.
Das kreative Kind allerdings ist besser als der Kritiker darin, die Sprache selbst zu beurteilen, ihre Melodie sowohl auf der Wort- wie auch der Satzebene. Ganz verzichten kann der Kritiker in der Phase der Überarbeitung also nicht auf seinen Gegenspieler.
Freigabe
Früher oder später wirst du an den Punkt gelangen, an dem du selber nichts mehr zu überarbeiten findest. Vielleicht bist du mit deinem Text ganz zufrieden, vielleicht aber rumort da auch irgendetwas, das du nicht richtig zu fassen kriegst. Dann ist es an der Zeit, den Text freizugeben und ihn deinem ersten Testleser zu zeigen. Ihm werden wahrscheinlich weitere folgen, und wenn alles gut geht, dann wird dein Text schließlich veröffentlicht.
Die Freigabe ist die einzige Phase des Schreibprozesses, die du den inneren Kritiker vollkommen allein erledigen lassen solltest. Ganz bewusst. Schick dein inneres kreatives Kind mit einem Becher Kakao aufs Sofa und setz ihm Kopfhörer mit seiner Lieblingsmusik auf! Denn da draußen wartet der äußere Kritiker. Auch er ist nicht dein Feind, solange seine Kritik konstruktiv und nicht verletzend ist. Aber das kreative Kind ist in der Regel sehr empfindlich und verfällt bei Kritik, die negativer ausfällt als erwartet, gern mal in Trübsal und schlimmstenfalls in eine Schreibblockade. Nur der innere Kritiker ist in der Lage, konstruktive Kritik zu erkennen und umzusetzen. Er allein ist einer Begegnung mit dem äußeren Kritiker gewachsen.
Welche Erfahrungen hast du bisher mit deinem inneren Kritiker gemacht? Kannst du dir vorstellen, dich mit ihm anzufreunden? Teile deine Gedanken gern unten im Kommentar!