Dass Nebelmond, die alte deutsche Bezeichnung für den Monat November, ein Wetterphänomen beschreibt, das zu dieser Jahreszeit gehäuft auftritt, ist nicht schwer zu erraten. Diesmal allerdings hält sich der Nebel nicht vor dem Fenster, sondern in meinem Kopf, aus dem die Erkältung vom Oktober nicht schwinden will. Ich komme irgendwie nicht wieder auf die Beine, fühle mich klapprig und vom Leben wie von einer Nebelwand getrennt. Und so stochere ich in diesem November sprichwörtlich im Nebel, bis mir die Begegnung mit einer schwedischen Autorin wieder Auftrieb gibt.
Not smooth
Nein, smooth läuft im November gar nichts. Sogar mit den Smoothies kämpfe ich, die die Lücke zwischen meiner Abneigung gegen Gemüse und meiner Einsicht, Vitalstoffe zu benötigen, schließen sollen. Der Mixer liefert zwar mit Krach und Wind einwandfreie Ergebnisse, aber die grünen Varianten, auf die ich mich so gefreut hatte, schon allein wegen ihrer schönen Farbe, erzeugen nichts als Übelkeit. Ich bleibe bei Rote-Bete-Himbeer und Spinat-Blaubeer hängen, die nicht nur optisch, sondern auch geschmacklich überzeugen, und verschiebe weitere Experimentierfreude aufs nächste Jahr.
Auch ansonsten hakt es gewaltig. Ich finde in keinen Arbeitsrhythmus zurück, mein Mut ist irgendwie abhanden gekommen, alle Pläne und Träume wabern in einem undefinierten Nebel. Schließlich werde ich mir bewusst, dass ich in einem bestimmten Bereich in meinem Leben in die innere Emigration gegangen bin. Das hört –und fühlt– sich erstmal negativ an. Innere Emigration bedeutet, dass man die Hoffnung auf eine Wendung zum Guten verloren und aufgehört hat, dafür zu kämpfen. Mit dieser meiner Haltung kann, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich mich bezüglich der Umstände und Anzeichen irre, aus der Sache nichts mehr werden. Positiv ist andererseits, dass ich meine Vorstellungen und Überzeugungen in die innere Emigration mitgenommen habe. Sie nicht aufgegeben oder angezweifelt habe, so wie es bei früheren Gelegenheiten war. Die innere Emigration befreit mich von dem Leiden, immer wieder gegen eine Wand zu laufen und mich ohnmächtig und in der Folge davon klein zu fühlen. Aber natürlich ist sie keine Dauerlösung; wenn sich die Umstände nicht wie durch ein Wunder ändern, muss ich irgendwann die Flucht antreten.
Bis dass der Tod uns nicht scheidet
„Für den, der übrig bleibt, ist es schwerer.“ Das sagt Eva und möchte, den eigenen Egoismus darin durchaus erkennend, vor Dieter sterben. Der Wunsch wird ihr erfüllt werden. Doch zuvor hält das Paar mit Langzeit-Dokumentarfilmerin Pia Lenz Rückschau auf beinahe 65 gemeinsame Ehejahre.
Gegen Ende November sitze ich im Filmkunst 66 nahe dem Savignyplatz und sehe mir „Für immer“ an. Liegt es an der Tageszeit, dem beginnenden Stress der Vorweihnachtszeit oder daran, dass es tatsächlich Menschen zu geben scheint, die nicht brennend an der Frage interessiert sind, wie man die Liebe durch die Jahrzehnte rettet? Jedenfalls sind wir nur fünf Zuschauer in dieser Nachmittagsvorstellung.
Wir sehen dem Zusammenleben von Eva und Dieter Simon zu, dem letzten Stück ihres gemeinsamen Weges. Unterlegt mit dem schwebenden Sound des „Northern Dancer“ von Stella Sommer spielt sich dieses Leben in großen Teilen in einem der Welt seltsam entrückt wirkenden Haus mit einem verwunschenen Garten ab. Eva und Dieter sind Jahrgang 1935 und 1933, und es ist rührend zu sehen, wie behutsam, fürsorglich und liebevoll das Paar, das sich 1952 kennengelernt hat, miteinander umgeht. Händchenhalten vor dem Fernseher, eine Blume auf dem Frühstückstisch und ein Tänzchen am Silvesterabend inklusive. Eva ist lungenkrank. Ihr Zustand verschlechtert sich zunehmend in den fast fünf Jahren, die der Film umfasst, und Dieter kümmert sich.
Es ist ein stiller Film. Viele Worte machen beide nicht mehr, auch nicht, wenn sie aus ihrem Leben erzählen. Die meisten Worte sind schriftlich in Evas Tagebüchern und Briefen festgehalten. Ab und zu ist es Eva, die aus ihnen vorliest, meist übernimmt diesen Part die Stimme von Nina Hoss aus dem Off. Und langsam deckt sich auf, wie hart der Frieden des Lebensabends erkämpft ist, das Versprechen „für immer“, 1957 gegeben, ein ums andere Mal in Gefahr war. 1959 die erste Ehekrise, von einer zweiten, dritten, vierten ist die Rede. Von Dieters Widerwillen, sich festzulegen, seinem Wunsch nach Freiheit trotz Familie, von Evas Untreue, seiner. Und von der Tragödie, als ihre vier Jahre alte Tochter überfahren wird.
Wieder zu Hause google ich ein bisschen und finde heraus, dass Eva und Dieter Simon ein in künstlerischen und politisch-gesellschaftlich engagierten Kreisen Hamburgs durchaus prominentes Paar waren. Das lässt der Film, wenn überhaupt, nur erahnen. Und ich finde noch etwas: Dieter. „Am schönsten wäre es, wenn wir zusammen sterben könnten“, reflektiert Eva am Anfang. Fast ist es gelungen. Der Film endet damit, wie Dieter sich alleine weiterhin um das Haus und das Grundstück kümmert. Dieter, der so stark gegen Eva wirkt, Rollerblades fährt, Holz macht, Dachrinnen reinigt, Essen bereitet, kommt, wenn Eva ruft, und ihr hilft, die Strümpfe anzuziehen, Dieter stirbt ein halbes Jahr nach Eva. Das Phänomen des Nachsterbens. Es gibt sie doch, die Liebe, die der Tod nicht scheidet.
Ia Genberg im Felleshus
Wie erinnern wir uns an die Menschen, die unser Leben und unsere Identität geprägt haben? Nicht in Form einer zusammenhängenden Geschichte, sondern in Form einzelner Details, so die Antwort der schwedischen Autorin Ia Genberg. Sie ist am 24. November zu Gast im Felleshus der Nordischen Botschaften Berlin mit ihrem Roman „Die Details“, für den sie 2022 den schwedischen Augustpreis erhalten hat.
Es wird der schönste Abend des Jahres für mich. Ich gehe vollkommen auf in der Atmosphäre des Raums, inmitten gleichgesinnter „Skandis“, der Thematik des Buches, der Präsenz der Autorin, dem Klang der schwedischen und deutschen Sprache. Ich bewundere die Kulturreferentin der schwedischen Botschaft, Grit Thunemann, die Genberg nicht nur kluge Fragen stellt, sondern deren lange Antworten hundertprozentig übersetzt. Ich lausche der Schauspielerin Kathleen Gallego Zapata, die ausgewählte Textpassagen so gut liest, dass ich mir wünsche, sie würde damit nicht aufhören, ehe das Buch zu Ende ist. Und ich lasse mich von der Autorin in die Entstehungsgeschichte des Romans mitnehmen, die, yeah!, mit Nebel im Kopf beginnt! Genauer gesagt jenem umnebelten und traumartigen Zustand, in den man gerät, wenn man hohes Fieber hat; in diesem Fall hatte Genberg Corona. Nicht richtig weggetreten, aber auch nicht bei klarem Bewusstsein, sondern irgendwo dazwischen. Genau wie ihre erzählende Protagonistin zieht die kranke Genberg ein Buch mit einer Widmung aus dem Regal, und in ihrem benebelten Zustand öffnet sich plötzlich ein Zugang zu ihren Erinnerungen. Die schreibt sie auf, obwohl sie eigentlich an einem anderen Projekt arbeitet. Anfangs autobiografisch gefärbt, zunehmend fiktiv, entstehen so die Porträts von vier Menschen, die vom Ich der Erzählerin zusammengehalten werden und die eins gemeinsam haben: sie bleiben nicht.
Die subjektiv erfahrene Ganzheit unseres eigenen Lebens als Mosaikteppich aus den Bruchstücken unserer Erinnerungen an andere. Dies nehme ich zum Nachdenken von diesem wunderbaren Abend mit nach Hause, nicht ohne mir vorher Genbergs „Die Details“ gekauft und –zum ersten Mal in meinem Leben– signiert gelassen zu haben. Möge auch mein Novembernebel am Ende für irgendetwas gut gewesen sein!
Das habe ich im November gebloggt
Darauf freue ich mich im Dezember
- Eine neue Blog-Challenge: Den „Jahresrückblog 2023“ von Judith Peters
- Jeden Tag ein Türchen aufmachen
- Weihnachtsmärkte; besonders die skandinavischen
- Nikolaus
- Mich aufs Sofa unter eine Wolldecke legen und lesen
- Plätzchen backen
- Erst eins, dann zwei, dann drei…