Weinmond – der alte deutsche Name für den zehnten Monat des Jahres. Berlin ist nun nicht gerade für seinen Weinanbau bekannt, aber hier und da rankt er doch an Zäunen und Mauern. Christliches Symbol der Lebensfreude und Rauschmittel. Na ja. Der Oktober ist mir eigentlich der liebste Monat von allen, aber in diesem Jahr verläuft er wenig „berauschend“. Für dieses Prädikat erwischt mich eine Erkältung zu heftig, im Mittelalter hätte man mir den Wein da vielleicht als Arznei gereicht.
Prenzlberg, hipp
Den ersten Matcha latte meines Lebens trinke ich am Feiertag in Prenzlauer Berg. „Wir haben aber nur Hafermilch“, klärt mich die junge Frau hinter dem Tresen in der Kollwitzstraße auf. Ich nicke. Mein inneres Kind jubelt über die Farbe. „Schmeckt sehr gesund“, sagt es altklug nach dem ersten Schluck, schiebt die Tasse bis weit über die Mitte des Tischchens und macht sich über den Schokokuchen mit kleinen, bunten Marshmallows drauf her.
Es wird eine große Runde durch den angesagtesten Bezirk der Stadt. Sehnsüchtig gucke ich in die Schaufenster zweier Möbelläden, das verächtliche Schnauben neben mir ignorierend. Für geschmackvolles Wohnen brauche es nur ein wenig Hingabe und Kreativität, behauptet das eine Geschäft. Nicht zuletzt ein wenig Geld, denke ich und überlege, während wir die Hinterhöfe in der Kastanienallee erkunden, ob sich wohl hinter den abgeranzten Mauern Perlen modernen Interior Designs verbergen.
Als wir schließlich auf einer Bank im Nordbahnhof hocken und auf die S-Bahn nach Hause warten, fällt mir auf, dass ich die letzten Stunden mal nicht an meine To-Dos gedacht habe, mal nicht an Versicherung und Autowerkstatt, in deren telefonischen Warteschleifen ich seit dem Unfall Mitte August unentwegt hänge. Der Körper ist einfach nur müde, der Geist entspannt. Nichtsdestotrotz beschließe ich den Tag mit der Kategorisierung besagter To-Dos in „Rot“, „Gelb“ und „Grün“. „Rot“ für „sofort“ und „Grün“ für „Kann warten“. Unter fachkundiger Anleitung, versteht sich. Inklusive einer Einführung in Excel und Stressbewältigungsstrategien. Mein Schnauben wird ignoriert.
Theater, nobel
Am 5. Oktober erhält Jon Fosse den Literaturnobelpreis. Für seine Dramatik und Prosa, die „dem Unsagbaren eine Stimme gibt“, wie es in der Begründung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften heißt. Wer Melancholie sucht, wird bei Fosse fündig. Gerade richtig für mich, sollte man meinen. Stimmt schon, aber mit dem Religiös-Mystischen in Fosses Werk habe ich Schwierigkeiten. Und außerdem: Fosse und ich, wir haben uns irgendwie verpasst.
Seinen ersten Roman veröffentlicht er 1993. Ich fange mein Studium 1986 an, Pensum ist Fosse auch 1995 in Oslo nicht. Als er zu Beginn der 2000er Jahre international einer der meistgespielten Dramatiker der Gegenwart wird, kann ich weder ein Buch in der Hand halten noch fünf Minuten sitzen, Theater steht nicht auf meiner Agenda. Als ich überhaupt wieder an einen Theaterbesuch denken könnte, ist Fosses Dramatik-Zeit vorbei, er schreibt wieder Romane. Ich lese zwei Theaterstücke und einen Roman, werde aber irgendwie nicht richtig warm mit ihm. Das hat ausschließlich mit persönlichem Geschmack zu tun. Ich erkenne und bewundere auch Goethes Genie, lese aber viel lieber den Heißsporn Schiller.
Seit mindestens zehn Jahren wurde Fosse als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt. Er hat den Bragepreis, den höchsten norwegischen Preis für Literatur, bekommen, den Literaturpreis des Nordischen Rates, und er war für den Booker Prize nominiert. Da erscheint der Nobelpreis als natürliche Fortsetzung. Ich freue mich für die norwegische Literatur, die ich so liebe, im Allgemeinen. Ich gönne Fosse den Preis. Aber er selbst sagt in einem Interview mit dem norwegischen Fernsehen, dass auch Dag Solstad ihn verdient hätte und noch eine Chance habe, ihn zu erhalten, wenn nicht erneut 95 Jahre ins Land gingen wie zwischen Sigrid Undset und ihm.
Solstad ist hier quasi mein Schiller. Mit ihm fühle ich mich fast auf Du und Du, seit ich 1988 an der Universität Oslo in ein Seminar von Professor Otto Hageberg geriet. Hageberg (1936-2014) war ein enger Freund Solstads, gemeinsam gingen sie auf die Barrikaden und teilten eine wilde, politische Vergangenheit.
Rein von meiner persönlichen Vorliebe aus betrachtet wiederholt sich für mich mit dem Nobelpreis an Fosse die Geschichte. 1903 erhält Bjørnstjerne Bjørnson den Literaturnobelpreis, nicht Henrik Ibsen. Während der eine in Vergessenheit gerät (was mit Fosse vs. Solstad eher nicht passieren wird), werden die Stücke des anderen bis heute gespielt. Zum Beispiel „Der Volksfeind“ an der Schaubühne Berlin diesen Oktober. Ich kann mir inzwischen einen Theaterbesuch zutrauen, auch wenn ich bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen immer zusehe, dass ich einen Sitzplatz am Rand bekomme, damit ich bei Bedarf aufstehen und mich gegen die Wand lehnen kann, ohne jemanden zu stören. Es ist tatsächlich mein erster Theaterbesuch seit 28 Jahren! Und weil er an einem 12. stattfindet, berichte ich davon in meinem 12 von 12.
Wenige Stunden nachdem ich meinen Artikel veröffentlicht habe, bekomme ich in der Nacht Hals- und Ohrenschmerzen, die Nase fängt an zu laufen, und der Kopf wird dicht.
Ich, krank
Der Corona-Test bleibt zum Glück auch in der Wiederholung negativ, die echte Grippe ist es auch nicht, aber es ist der erste richtige Infekt mit Fieber und allem Drum und Dran seit mindestens fünf Jahren. Drei Wochen lang bin ich völlig ausgeknockt und kann mich nur schwer wieder erholen.
Die Berge an Taschentüchern um mein Bett hätten zweifellos dieses Kapitel am besten illustriert, scheinen mir aber zu unerfreulich. Also habe ich obiges Foto gewählt; die geneigte Leserschaft beachte das angefressene Blatt rechts vorn.
Am 18. Oktober startet Judith Peters‚ Blogchallenge „Blogtoberfest“. Mit Watte auf den Ohren und warmer Stirn lausche ich ihrem Facebook-Live und bezweifle, dass ich in meinem Zustand einen Blogartikel zustande bringe. Aber das Wunder geschieht, und sie stellt einen Listicle, einen Artikel, der aus einer Liste besteht, als Aufgabe. Und ein Listicle ist schnell geschrieben! Thema: Meine Bucketlist bis zum 31. Dezember 2023. Und es soll nicht um die To-Dos gehen, sondern um die To-Wants. Nicht: Was muss ich bis Jahresende noch alles schaffen?, sondern: Was möchte ich bis Jahresende noch gerne tun? Hier sind meine To-Wants, und die Verschiebung des Fokus weg vom Müssen hin zum Wollen hat sicher zu meiner Genesung mit beigetragen. Danke, Judith!
Das habe ich im Oktober gebloggt
Darauf freue ich mich im November
- die gemütlichen Lesestunden auf dem Sofa mit Wolldecke, Kakao und Teelicht nachzuholen
- Martinstag
- neue Suppenrezepte auszuprobieren
- und natürlich viele neue Blogartikel
Und wie war dein Oktober? Erzähl es mir im Kommentar!