Monatsrückblick Mai 2024: Unter dem Weidemond

In übertragenem Sinne habe ich diesen Monat genau das gemacht: meine Schäfchen grasen lassen und sie dabei beaufsichtigt. Weidemonat Mai. Früher ließ man im fünften Monat die Tiere wieder auf die frisch grünen Weiden. 
Mit den alten deutschen Monatsnamen für meine Rückblicke bin ich jetzt einmal rum und muss mir zukünftig etwas anderes ausdenken. Aber der Anlass, über das Alter nachzudenken sowie frühere Überzeugungen zu überprüfen, der fand noch unter dem Weidemond statt.

Ein Geburtstag auf dem Land oder: vom Alter

Mai 1944: Willy ist auf Fronturlaub und steht vor dem Haus Wache. Er hat den Auftrag, nach Fliegern Ausschau zu halten, die auf dem Rückweg von Berlin ihre letzten Bomben loswerden wollen. Im Falle eines Falles soll er die Gebärende in den Keller tragen. Bei der Gebärenden handelt es sich um seine Cousine, meine Großmutter. Sieben Monate zuvor ist sie in Berlin ausgebombt und bringt ihre Tochter im Haus der Familie auf dem Land zur Welt.
Mai 2024: Meine Mutter beschließt, ihren Achtzigsten in ihrem Geburtsort zu verbringen.
Wir fahren hin.

80 Jahre! Wenn wir uns vorstellen, wir sind 80 oder 100 und körperlich und geistig fit genug, um am Leben teilnehmen zu können (und leben außerdem in politisch und ökonomisch ruhigen Zeiten), dann wollen wir alle so alt werden.
Gleichzeitig benutzen wir das Wort „Achtzigjährige/r“ als Metapher für Krankheit und Einschränkung. Und meiner Mutter geht es tatsächlich körperlich „wie einer Achtzigjährigen“; nach einem Knieschaden in ihren Fünfzigern ist sie heute schwer gehbehindert und kann das Haus kaum noch verlassen. 
In dieser Form also wollen wir alle nicht alt sein.
In den Jahren meiner Bettlägerigkeit habe auch ich gesagt, mir gehe es wie einer Achtzigjährigen; ich war ein Pflegefall. Meine Mutter hat sich um mich gekümmert, meine Großmutter. Deshalb sage ich heute oft, „Altwerden schreckt mich nicht mehr“, aber so ganz wahr ist das auch nicht. Sollte ich mit 80 wieder ein Pflegefall sein, wen werde ich dann haben?, lautet die insgeheim bange Frage. Und ehrlich gesagt, ich finde die Aussicht auf kleine, hilfreiche Hausroboter gar nicht mal so schlecht.
Das Thema Alter ist mit vielen Ängsten und Unsicherheiten verknüpft.
Und mit Verdrängung.
Wir verdrängen ganz allgemein lieber, statt uns beizeiten zu überlegen, wie wir alt werden wollen. Und wie wir es hinkriegen wollen, dass wir körperlich und geistig in bestmöglichem Zustand alt sind. So viele Dinge können wir nicht kontrollieren, aber unser Bewusstsein für und unser Bemühen um Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung und geistige Herausforderung, das können wir schon kontrollieren. 
Und konkret verdrängen meine Mutter und ich die Frage, wie es mit ihr weitergehen soll, wenn es ihr irgendwann noch schlechter geht. Meine Kraft ist begrenzt.

Von dem Zweig der Familie, zu dem Willy gehört, lebt niemand mehr. Er selbst wurde wenige Monate nach der Geburt meiner Mutter mit Ruhr auf freier Strecke aus einem russischen Gefangenenzug geworfen. Andere Verwandtschaft gibt es kaum noch, und die Schulfreundinnen meiner Mutter sind schon lange dement. So feiern meine Mutter und ich ihren Achtzigsten alleine.
Wir gehen Kaffeetrinken. Das Café ist rappelvoll.  Einen Tisch haben wir nicht bestellt, und fast sieht es so aus, als müssten wir wieder nach Hause gehen. Da zahlt ein größerer Tisch, an den setzt uns die Bedienung zusammen mit zwei Herren. Abends im Restaurant trauen wir unseren Augen nicht, als wir die beiden am Nachbartisch wiederentdecken.

Mitten in die Feierlichkeiten hinein platzt aus Berlin die Nachricht, dass Netzhaut und Auge sich getrennt hätten und morgen ein operativer Versöhnungsversuch stattfinde, dem Linse und Glaskörper zum Opfer fielen. Ich fahre also Hals über Kopf am nächsten Tag wieder nach Hause und stelle mit Verwunderung fest, dass es nicht den leisesten Widerspruch gegeben hat. Nicht, dass ich mich hätte abhalten lassen, aber das Ausbleiben jedweden Heldentums gibt mir zu denken.

Krankenhausbesuche oder: von Beständigkeit und Veränderung

Das Klinikum Steglitz ist da, seit ich denken kann.
1968 als Universitätskrankenhaus der nach der Teilung im Westen der Stadt gegründeten Freien Universität Berlin gebaut, entlang des Teltowkanals  gelegen, in unmittelbarer Nachbarschaft zu beschaulichen Villenstraßen und genossenschaftlichen Mietshäusern. In Lichterfelde, einem zum Bezirk Steglitz gehörenden Stadtteil. Ich bin ganz in der Nähe aufgewachsen. Mein Lieblingsspielplatz grenzte direkt an das Krankenhausgelände.
Jeder Unfall in meiner Grundschule landete in der Ersten Hilfe des Klinikum Steglitz’, und auf diese Weise machte auch ich erstmals die Bekanntschaft mit dem Inneren des Komplexes, nachdem ich in der vierten Klasse geschubst worden und eine lange Schultreppe von oben bis unten hinuntergefallen war.

Als ich jetzt auf dem Weg in die Augenstation das Gebäude durchquere, überkommt mich ein Gefühl der Beklemmung. Nicht, weil ich durch die Aufnahmehalle voller nervös an ihren Papieren nestelnder Menschen komme. Nicht, weil ich an der Computertomografieabteilung vorbeigehe, vor der Betten mit Patienten stehen, die eine unnatürlich gelbe Hautfarbe haben oder bis auf die Knochen abgemergelt sind. Auch nicht, weil ich keine besonders guten Erinnerungen an die drei Wochen habe, die ich hier 1997 auf der Neurologie gelegen habe.
Sondern weil ich einen Mann besuche.
Während ich den Fahrstuhl in den fünften Stock nehme, habe ich die Stimme meiner Mutter im Ohr, wie sie vor über dreißig Jahren sagte: „Mit Männern gehen sie noch rauer um, da meinen sie, die können das ab.“
Der Satz fiel im Zusammenhang damit, dass man meinem Onkel im Klinikum Steglitz Ende Oktober 1991 erst den Bauch aufgeschnitten und ihm anschließend inmitten des Familienrummels am Nachbarbett mitgeteilt hatte, er werde Weihnachten nicht mehr erleben, man könne nichts mehr für ihn tun und morgen werde er entlassen. Knapp, ruppig und ohne jede Empathie.
So etwas sitzt tief.
Mein Onkel hat es übrigens noch bis März geschafft. Die Naht über seinen Bauch ist nicht mehr zugegangen; der Krebs wuchs schneller. 

Als ich in den Flur mit den Patientenzimmern einbiege, fällt mein Blick als erstes auf die Sitzgruppe am Ende des Ganges. In der baugleichen Abteilung damals saß ich dort als Vierundzwanzigjährige und sprach mit meinem Onkel über das Sterben. Heute wie damals ist diese Sitzgruppe Zufluchtsort für alle, die mal eine Pause von ihren Zimmergenossen brauchen, ein bisschen Privatsphäre. 
Mein jetziger Patient hat Glück; mit den drei anderen Herren, die nacheinander das Zimmer frequentieren, kommt er gut aus. Auch das Fernsehprogramm ist kein Diskussionsthema, das Gerät bleibt schwarz, was vielleicht an der Augenabteilung liegt.
Ich hingegen erinnere mich, wie ich mich damals auf der Neurologie sowohl dem Programm- als auch dem physiologischen Geschmack meiner beiden Zimmergenossinnen beugte, die die Regel eingeführt hatten, dass jedes Bett reihum für die Süßigkeiten zum Fernsehen zuständig war.
Als diese beiden Damen nach Hause entlassen waren, bekam ich eine Sterbende ins Zimmer. Hirntumor. Ihre Persönlichkeit war bereits verschwunden, ausradiert, und ich konnte dem weiteren Verfall von Tag zu Tag zusehen. Das brachte mich auch fernsehtechnisch in ein Dilemma. Am Tag meiner Einweisung  war Diana, Princess of Wales, tödlich verunglückt. Nun wollte ich gern die Trauerfeier verfolgen, aber konnte, durfte, ich das mit einer Sterbenden im Zimmer? Ich habe es tatsächlich getan, den Ton kaum hörbar gestellt. Die Frau lag zusammengekrümmt in ihrem Bett, hat nicht zum Gerät hochgeschaut, ich glaube, sie hat nichts mehr wahrgenommen. Wohl war mir dabei nicht; ein Unwohlsein, das bis heute mit Dianas Tod verknüpft ist.
Ob man das heute noch genauso machen würde, eine Sterbende zu einer Dreißigjährigen aufs Zimmer legen?

Die Augen-OP ist gutgegangen, aber ohne Glaskörper umherzulaufen, dafür mit Gas im Auge, das der Körper langsam durch eine neue Flüssigkeit ersetzt – schwarze Flecken, Doppelt- und Auf-dem-Kopf-Sehen inklusive – nicht wirklich lustig. So komme vorrangig ich in den Genuss des grandiosen Ausblicks aus der fünften Etage über nicht nur meinen Heimatbezirk, sondern die halbe Stadt.
Mit drei Augen betrachten wir die schwebenden Skulpturen und Gemälde von Hans Jaenisch in der Westhalle des Klinikums. Entdecken viele Arten von Tieren auf einer von Patienten gestalteten Pyramide aus Keramik und staunen über die vermeintliche Leichtigkeit der Würfelskulptur „B35“ von Gerhard Jäckel und der kinetischen Plastik von George Rickey auf dem Gelände draußen.

Kunst im Krankenhaus

Meinen Lieblingsspielplatz gibt es noch. Dort, wo der Klinikzaun an den Spielplatz stößt, ist eine Blühwiese mit Bienenstock, ein Stück weiter ein Teich, in dem Frösche quaken. Die Charité Campus Benjamin Franklin, wie das Klinikum Steglitz seit 2003 heißt, soll in den nächsten 25 Jahren ausgebaut werden. Viel Freifläche wird neuen, hohen Gebäuden weichen. Die Zeit steht nicht still. Vieles wird sich verändern. Vieles hat sich verändert. Nicht nur der Name, auch der Ton den Patienten gegenüber.

Das habe ich im Mai gebloggt

Darauf freue ich mich im Juni

  • mein Blog feiert seinen 1. Geburtstag
  • die Neue Nationalgalerie zeigt Andy Warhol
  • Mittsommer

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Kategorisiert in Rückblicke

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